Durch den Abend moderierte höchst fachkundig die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Charlotte Michel-Biegel. Sie zitierte Pressenotizen, die den Eindruck erwecken, als wäre an den Schulen inzwischen alles wieder „wie vor der Pandemie“. Sogar Leistungstests fielen angeblich besser aus als erwartet. „Wie sehen Sie das“, fragte sie das Podium.
Der Schülersprecher des Otto Hahn Gymnasiums Nagold Kasjan Krokos machte den Anfang und meinte, dass während der Pandemie der Stoff eben nicht so tiefgreifend behandelt werden konnte. Dadurch sind reihum Lücken im Grundverständnis entstanden. „Selbst ehemalige 1er-Schüler sind jetzt de-motiviert!“
Die Pressesprecherin des Landesschülerbeirates Jette Wagler fand, dass das Homeschooling, also das digitale Lernen per Video für viele ganz gut gelaufen sei.
Die Sicht der Lehrer formulierte Matthias Flury vom Otto Hahn Gymnasium: „Wir mussten uns von heute auf morgen total umstellen.“ Die Schüler waren monatelang isoliert. Schule im eigentlichen Sinn war weg – es ging nur noch um Stoffvermittlung. Er betonte: Das Interessante für Schüler – die erlebten Gemeinsamkeiten – war weg. Die Folgen sind jetzt nicht nur schwächere Leistungen.
Der Schulsozialarbeiter Thomas Podbielski, der in Altensteig für vier Schulen und 2000 Schüler zuständig ist, erzählte von der Zunahme sozialer Auffälligkeiten. Homeschooling bedeutete: Das Miteinander, die soziale Entwicklung wurde weggenommen. Die Peer-Group war weg! Das kann jetzt nicht „nachgelernt“ werden. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“ So einfache Dinge wie „Danke, Bitte, Konflikte leben“. Auch könne die Schule nicht die im Elternhaus versäumte Erziehung wett machen.
Die Schule ist mehr als die Vermittlung von Inhalten.
Damit war auch schon ein zentrales Thema des Abends gesetzt: Geht es in der Schule nur um die Vermittlung von abfragbarem Wissen? Während der Pandemie mit Konzentration auf die Kernfächer wie Mathe und Deutsch. Oder – nochmal - ist Schule nicht auch ein ganz wesentlicher Ort der Sozialisation? Ein Ort der Gemeinschaftsbildung, eine lebendige Möglichkeit für demokratisches Lernen und soziales Verhalten – was auch für die Schülervertreter wichtig war. Jette Wagler war froh, dass sich gerade in dieser schwierigen Situation im Landesschülerbeirat mehr Leute engagiert haben.
Der Elternvertreter von Otto Hahn Gymnasium Udo Vollmer sprach über die Rolle der Eltern während des Lock-Downs. Es gab verbreitet praktische Probleme: Für einige Berufe war es nicht möglich, die Arbeit ins Home-Office zu verlegen. Das galt für eine Krankenschwester genauso wie für einen Handwerker. Soziale Unterschiede wurden sehr deutlich: „Es gab Schüler, die mussten versuchen, mit dem Handy dem Unterricht zu folgen und hatten keinen Drucker zuhause.“ Kinder aus gehobenen sozialen Schichten hatten es da wesentlich leichter mit der Technik, WLAN und eigenem Schreibtisch im Zimmer.
Corona brachte die Probleme der Schule ans Licht
Seine eigene Sicht hatte der Schulleiter der Gemeinschaftsschule Neubulach, Dr. Dominik Bernhart. Vor Ort haben wir in den Schulen viel probiert. Manches war sinnvoll, vieles aber nicht. Er erinnerte an die „Laufwege“ in den Schulen, wovon heute noch Klebstoff-Reste die Gänge zieren. Von den zentralen Schulbehörden hätte er mehr Unterstützung erhofft. So bringe gerade die Digitalisierung des Unterrichts viel Betreuung von Endgeräten (Tablets) und Netzwerken mit sich. Dafür sind weder Fachleute eingestellt worden, noch gibt es in der Stundentafel dafür vorgesehene Zeit. „Engagierte Kollegen machen das halt freiwillig!“ Er klagte: „Jeder Firma mit 600 Tablets im Umlauf hat eine IT-Abteilung mit vier Leuten. Wir sollen das alles nebenher machen!“ An seiner Gemeinschaftsschule werden pro Klasse zwei Stunden Coaching-Gespräche geführt – auch dafür gibt es keine zeitliche Anrechnung.
Die Moderatorin gab die Frage zur versäumten Gemeinschaftsförderung an den Professor für Schulpädagogik der PH Ludwigsburg, Prof. Dr. Albrecht Wacker, weiter. Der wusste, was erste Studien belegen: 75% der Eltern und 71% der Schüler fühlten sich in dieser Zeit deutlich belastet.
Aus wissenschaftlicher Sicht sind jetzt schon Wissenslücken bis zu 42% festzustellen. Deutlicher noch sind die psychosozialen Probleme. „Viele Jungs tragen plötzlich Messer. Mädchen reagieren mit Depressionen oder versuchen mit Magersucht wenigsten die Kontrolle über ihren Körper zu erhalten.“
Alle auf dem Podium waren sich einig: Insgesamt habe Corona wie ein Brennglas die Probleme der Schule ans Tageslicht gebracht. Nur weil jetzt die Schulen wieder geöffnet sind, haben sich die Probleme nicht in Luft aufgelöst. Und es naht die nächste Corona-Welle.
Alle Diskutanten hatten viele Forderungen an die Politik, welche Anke Much, Vorsitzende des Grünen Kreisverbandes Calw für Peter Seimer MdL (Grüne) notierte, der leider an Corona erkrankt war und die Einladung zum Podium nicht wahrnehmen konnte.
Einige Fragen an ihn waren:
- Integration der Schulsozialarbeit in den Schulalltag
- Die Lehrer und Schulleitungen stark von Verwaltungsaufgaben befreien durch IT-Beauftragte in den Schulen und landesweite Datenschutzvorgaben
- Dringende Evaluierung des Corona-Infektionsschutzes (Masken, Abstände, Lüftung usw.), damit Schulen im nächsten Herbst nachgewiesen sinnvolle Maßnahmen durchführen können und keine Regeln umsetzen müssen, die nichts bringen.
Den meisten Applaus gab es für den abschließenden Appell des Lehrers Matthias Flury:
„Wir dürfen die Schüler nie mehr so vergessen wie zu Beginn der Pandemie!“
Bericht: Albrecht Martin, Grüne Kreis Calw
Bilder: Wolfgang Much, Grüne Kreis Calw
Weitere Bilder, aufgenommen von Wolfgang Much, finden Sie hier
Link zum Bericht im Schwarzwälder Bote in der Augabe vom Samstag, 02.07.2022